Mein Kopf schlägt rhythmisch gegen die gepanzerte Scheibe. Mit einer monotonen Regelmäßigkeit, wie sie nur in Zügen vorkommt.
Ich war wohl eingeschlafen. Keine gute Idee. Die Wachsamkeit und Konzentration zu verlieren, ist tödlich.
Ich stelle mich weiter schlafend. So wie viele andere Passagiere auch, habe ich meine alte, graue Wollmütze tief ins Gesicht gezogen.
Ein Auge leicht geöffnet, sondiere ich meine Umgebung.
Ich befinde mich in einer der neuen Kabinen der deutschen Bahn.
Die ganze Kabine ist innen mit der neuen Legierung ausgekleidet, auf die Ärzte, Polizei, Militär und natürlich die Militärpolizei total abfahren.
Schmutz abweisend und nahezu unzerstörbar hält sie Gebäude, Transportmittel und Krankenzimmer sauber und intakt. Kein Blut, Graffiti oder mechanisches Einwirken können der Oberfläche etwas anhaben. Jede Körperflüssigkeit perlt ab.
Diese Legierung wird inzwischen fast überall verwendet. Sie lässt sich auf Stoff, Metall, Stein und so ziemlich jedem Material aufbringen, das die Menschheit verwendet. Der Überzug schimmert milchig grau und er lässt die ursprünglichen Farben und Strukturen des Untergrunds pastellartig und unwirklich erscheinen.
In den Städten fühlt man sich wie in einen Traum versetzt, in dem alles verwaschen, nicht greifbar wirkt.
Die Kosten für Reinigung und Instandhaltung der öffentlichen Hand haben sich dadurch mehr als halbiert. Es reicht ein starker Wasserstrahl, der einfach auf die Gegenstände gerichtet wird. Oft wird auch einfach ein Regenschauer abgewartet. Alles sauber, glatt und makellos.
Die Kabine ist, wie alle in der fünften Klasse, hoffnungslos überfüllt. Etwa vierzig Erwachsene und ein paar Kinder sitzen, stehen und – in einigen Fällen – liegen auf engstem Raum gedrängt.
Bis auf zwei Kinder, wohl aus besseren Hause, haben alle, auch ich, Kleidung aus dem Schmutz abweisenden Zeug. Eine graue, wirre Masse in einer grauen, geordneten Umgebung, in der die zwei Kinder wie Farbtupfer wirken und irritieren.
Ich bin in Berlin zugestiegen und sitze bereits seit einer Stunde in diesem Abteil; so habe ich auch einen der wenigen Sitzplätze an einem der Fenster ergattert. Es gibt in jeder Kabine nur vier kleine Fenster. Zwei auf der linken Seite und zwei auf der rechten. Diese wirken wie viereckige Bullaugen in der riesigen Kabine, gerade mal groß genug um durch zuschauen. Da diese Züge mit dreihundert Sachen durch die Landschaft rasen, kann man von der Umgebung sowieso nicht viel erkennen. Doch ich hatte einen anderen Grund, diesen Platz auszuwählen und zähle deshalb die Personen, die durch die Kabinentür vor mir ein und aus gehen.
Zwei junge Frauen, beide blond, beide auf späte zwanziger Jahre getrimmt, gehen kichernd durch die Kabinentür hinaus. Einen Augenblick später kommt eine ältere Frau, deren Mundwinkel missbilligend nach unten zeigen, zur Tür herein. Sehr gut.
Ich warte. Jetzt steht ein dicker junger Kerl, Typ erfolgloser freier Programmierer, ächzend auf und schiebt sich durch die sich öffnende Tür. Ich muss meine Aufregung mit Gewalt unterdrücken, um nicht auf zu springen. Nach einer endlosen Stunde voller Angst scheint nun endlich der richtige Augenblick gekommen zu sein.
Jetzt müssen nur noch die zwei jungen Frauen ihren Arsch zurück auf ihren Platz bringen.
Ich habe bereits vier Identitäten verbraucht und kann nicht mehr wechseln. Die Jetzige ist die letzte, die ich in Deutschland verwenden kann. Meine Eltern und mein Bruder sind verschwunden, einkassiert aufgrund des Verdachts der Raubkopie. Die GFM hat der deutschen Staatspolizei Material zugespielt, das den dringenden Verdacht der illegalen Computernutzung und damit den Verdacht auf eventuellen Terrorverdacht nahe legt. Dies ist seit zehn oder zwanzig Jahren gängige Praxis. Die Globale Film- und Musikindustrie spielt mit dem Staat zusammen. Seit 2010 gibt es außerdem ein Gesetz, das es dem Staat erlaubt, Menschen auch dann auf unbestimmte Zeit einzusperren, wenn auch nur der Verdacht besteht, dass sie irgendwann einmal des Terrorverdachts verdächtigt werden könnten.
Das Ganze nennt sich Terrorverdächtigungsabwehrgesetz kurz TVAG oder umgangssprachlich Schäuble. Die GFM hat das Potential dieses
Gesetzes entdeckt und nutzt es ausgiebig.
Als meine Eltern und mein Bruder eingesackt wurden, war ich gerade am Campus; ein Kommilitone, der in der selben Straße wohnt, warnte mich.
Mit Hilfe einiger undokumentierter SysEggs konnte ich mir eine neue Identität zulegen; diese musste ich aber ständig wechseln, da die Spürhunde nicht lange brauchten, um den Ungereimtheiten auf die Spur zu kommen. Der implantierte Funkchip wird einfach ständig ausgelesen, egal wo man sich befindet. Die Überwachungsbehörde weiß zu jedem Zeitpunkt exakt, wo sich jeder Mensch befindet. Natürlich kann man mit dem notwendigen Wissen diese Chips überlisten, sie umprogrammieren. Es dauert jedoch in der Regel nicht lange, bis sie dir auf die Spur kommen. Und dann haben sie dich wirklich am Arsch.
In alten Zeiten waren die SysEggs nur kleine Spielereien, die von Programmierern im Code verborgen wurden. Damit befriedigten die Programmierer ihren Geltungsdrang, der sie aus der Masse heraus stechen ließ. Anfänglich machten diese Eastereggs oder SysEggs, wie sie mittlerweile heißen, nichts anderes, als den Namen des Programmierers über den Bildschirm sausen zu lassen; oder sie versteckten ein kleines Spiel in einem Buchhaltungsprogramm, das man nur aktivieren konnte, wenn man eine bestimmte Kombination aus Tasten- und Mausklicks aktivierte. Da heutige Programme fast ausschließlich auf alten Code aufbauen gibt es viele dieser SysEggs noch immer. Außerdem gibt es nach wie vor noch ein paar renitente Programmierer, die Kopf und Kragen riskieren, um die alte Tradition aufrecht zu erhalten und Hintertürchen, Spiele oder einfach nur Abstürze des Systems einbauen.
Im Zuge meines Studiums der Computerhistorie gelangte ich durch Zufall zu diesen Informationen und weiß sie mittlerweile auch zu nutzen.
Diese Eggs zu kennen ist an sich schon ein Verbrechen. Sie zu benutzen zieht hohe Strafen nach sich.
Verdammt, der dicke Programmierer kommt aus der Toilette am Gangende zurück. Hinter ihm die Überwachungseinheit, die ihren Schwarm informiert, sobald sie mich gescannt und abgeglichen hat.
Wenn jetzt nicht ein Wunder geschieht und die zwei Mädchen reinkommen, bin ich endgültig geliefert.
Ich muss vier Durchgänge von natürlichen Personen durch die Kabinentür abwarten. Die Reihenfolge ist dabei wichtig: Zwei hinaus, einer rein, einer raus, zwei rein. Dann sollte ein winziger Touchscreen für zwei Sekunden in dem Zugfenster erscheinen. Auf diesen warte ich. Dieser Screen eröffnet ein Menü, wenn man ihn aktiviert.
Er liefert unter anderem eine Übersicht und Steuerungsmöglichkeiten über Wächter, Türmechanismen und die Geschwindigkeit des Zuges. Damit könnte ich die Wächter in eine andere Richtung schicken, den Zug anhalten oder aber das Überwachungsprogramm für diese Fahrt stoppen.
Der dicke Programmierer hat schon die Hand am Griff der Kabinentür. Alles aus, denn noch einen Durchgang kann ich nicht abwarten.
Doch er wird von der Überwachungseinheit angehalten und überprüft.
Da sehe ich die Zwei Frauen, die sich an der kleinen Gruppe vorbeidrängen, die Türe öffnen und zu ihren Sitzplätzen gehen.